BETON Berlin 23 with Dana Lorenz
Date: Saturday March 22, 5 pm
Location: Müncheberger Str. 2, 10243 Berlin
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Zarter Müllhaufen
Du warst ein Tempel,
ein zartes Pantheon,
die wuchernde Kraft aus
zwölf Säulen billigstem Beton
auf Berliner Boden.
Schwarze Kohlenschlacke umsäumt unsere Geschichten –
die Biografien derer, die unvollständig weitergelebt werden,
die Biografien derer, die gebrochen wurden, die sie gebrochen
haben wollten, die sie nicht wussten, wie schmerzhaft so
ein Knochenbruch sein würde und dass die getrennten Sollbruchstellen
schief zusammenwachsen würden.
Sie wussten es ja.
Ihr habt das Geld angerufen:
„Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!“
Und sie kam.
Und mit ihr der Treibsand, auf dem ihr steht, grauer Boden, der ausgehoben
wird, um in den tiefen Sedimenten verdrängter Geschichten zu graben.
Ihr tauscht im Wechselkurs 2:1.
Zwei Geschichten, eine Schaufel. Zwei Geschichten, eine Schaufel und so weiter.
Mal sehen, was ihr so finden werdet.
Mal sehen, wie viel zerschlagenes Zwiebelmuster unsere Hände zerschneiden werden.
Mal sehen, wie tief ihr graben müsst, um zu verstehen, dass unsere Geschichten
nicht dieselben sind. Dass uns unsere Geschichte nicht vereint, dass diese
Vereinigung kein Erfolg war, dass wir nicht über Los gegangen und keine Häuser
gekauft haben.
Nicht verdampfen, denke ich und schaue auf Asbeststeine in Vitrinen, als wären sie mehrere Jahrtausende alt und kündigten den Abriss des Palastes 2005 n. Chr. an.
Welche treuen Hände graben da eigentlich?
Wie so viele Orte wird auch dieser hier verschwinden.
Wie kann ich da nicht nostalgisch werden?
Ich stehe am Rand, wie ich immer an Rändern stehe und in schwarze Löcher
schaue. Amalgam werdet ihr verwenden und es wird Generationen brauchen,
diese Füllungen wieder zu entfernen. Die Löcher wieder freizulegen, in sie
hineinzusprechen und unserem Echo zuzuhören.
Wir werden alle Kräfte benötigen, dem puckernden Schmerz einen Namen zu geben.
Wir werden ein paar Drogen benötigen, um das Trauma zu wecken und ich werde meine Augenbrauen zupfen, um meinen Ausdruck zu verändern und ein paar Jahre brauchen, bevor ich sie wieder wachsen lasse.
Jetzt schauen wir auf Displays. Wir schauen in das Tiefschwarz hinter der Glasscheibe, hoffend auf eine Nachricht und glaubend an die Traurigkeit, die uns anhaftet, wenn wir versuchen, das Telefon wach zu schütteln oder mit unserem Gesicht zu entsperren.
Warum nehmen wir nicht unsere Körper, heben sie hoch, vibrieren sanft und schütteln uns ein wenig wach? Ist es nicht an der Zeit, Zähne zu zeigen?
Ich frage mich, wie sich schon einige gefragt haben, warum wir nicht ein paar von diesen Löchern lassen, ein paar charmante Zahnlücken, durch die wir hindurch spucken können, lassen, ein paar der schief gewachsenen Zähne, an denen sich unser Blick heften kann, lassen.
Und ich frage mich, wie sich schon einige gefragt haben, warum wir keine Lücken lassen können?
Wir müssen darum kämpfen, die Begriffe wieder zu öffnen, sie aufzuhebeln, sie offen zu halten und uns Platz zu machen zwischen den Buchstaben und deren Bedeutung. Wir müssen die Geschichte auswringen, sie in die Sonne hängen zum Trocknen auf den Wäscheleinen im Innenhof, die es nicht mehr gibt, um uns mit ihr den Fieberschweiß von der Stirn zu wischen.
Erinnerung stirbt mit ihrer Abgeschlossenheit.
Das lehrt uns aber niemand.
Wie so viele Orte wird auch dieser hier verschwinden.
Warum sollte ich da nostalgisch sein?
Wusstet ihr, dass Kaufhof eine eigene Siebdruckwerkstatt hatte?
Wusstet ihr, dass ich in der 9. Klasse ein Praktikum zur Schauwerbegestalter_in gemacht habe und wusstet ihr, dass ich in der World of Music immer eine CD mehr in die Hülle getan habe und sie mir beiläufig in meinem Rucksack gefallen ist? Und wusstet ihr, dass ich mit meinen ersten Inline-Skates selbstverständlich rausgerollt und genau diesen Ort hier, Tag für Tag, berührt habe?
Ich wusste es ja.
Jeder meiner Wege endete im 17. Stock, jeder Müllbeutel fiel 51 Meter tief und je eine Vogelspinne befand sich an der Zimmerwand meines Bruders, die durch Mütterhände mit dem Pantoffel totgeschlagen und einen untertellergroßen Fettfleck hinterlassen würde. Die Aussicht war brillant, der glitzernde Fernsehturm auf Augenhöhe und die Faschos auf der Straße schrumpften zu einem Haufen brauner Scheiße. Ich schaute ihnen zu, Woche für Woche, Monat für Monat liefen sie stolz die Frankfurter Allee entlang, bis sie hinter der billigen Verschalung aus Dämmwolle verschwanden.
Ich traf sie im Fahrstuhl wieder, atmete ihren faulen Zigarettenrauch ein und schaute auf ihre frisch geöffnete Bierdose. Es sollte später erst ein Rauchmelder eingebaut werden und ich zwischen dem 17. und 18. Stockwerk über mehrere Stunden alleine feststecken. Seitdem denke ich, ist der Fahrstuhl der kleinste soziale Raum.
Schauen wir uns den Ort genau an.
Wir riechen die warme Luft, spüren unsere schweren Zungen und berühren die stummen Zeug*innen aus Beton. Ein versteinertes und wieder in Form gegossenes Skelett. Wir fühlen ihre Oberfläche, ihre materielle Struktur, die uns gefällt, und sie berührt uns zurück. Merleau-Ponty nennt diese Berührung „doppelte Empfindung oder auch Selbstberührung“. In „Phänomenologie der Wahrnehmung“ schreibt Ponty: „Während Wahrnehmungsobjekte vor mir stehen und vor meinen Blick entfaltet werden können, bleibt mein Leib immer am Rand meiner Wahrnehmung, sodass er nie vor mir ist, aber immer >>mit mir<< (Merleau-Ponty 1966, 115) und weiter schreibt Ponty: „Stellen wir uns vor, dass wir, wenn wir (etwas) berühren, uns selbst nicht berührt fühlen. Unsere Hand kann berühren, wird aber im Gegenzug nicht selbst berührt. Was wäre das für eine Erfahrung? Wäre es noch Berührung?“
Du warst ein Portikus,
ein zarter Altar,
die schwelende Unentschlossenheit aus
zwölf Säulen verschlossenen Asbests
auf Berliner Boden.
Jetzt wringst du den warmen Waschlappen aus,
nimmst einen Schluck von deinem abgestandenen Bier
und hältst es dir an die Stirn.
Der Fernseher läuft warm, stumm flackern die Bilder im Hintergrund.
Kennst du diese Bilder? Die Bilder aus Berlin?
Von den einstürzenden Pergolen und Hochhäusern?
Wann genau hast du beschlossen, dich aufzugeben?
Schauen wir uns den Ort.
Schauen wir genau hin, wie ich mit langen blonden Haaren und breiten Baggy-Pants hier entlang renne. Schauen wir genau hin, wie ich außer Atem bin und die hintere Eingangstür zur Platte gerade so hinter mir zugeschlagen bekomme. Und schauen wir genau hin, wie sie ihr schweißnasses Gesicht an die Glasscheibe drücken, ich ihnen meinen Mittelfinger zeige und spucke und nicht mehr aufhöre zu spucken, bis ihre Gesichter verschwinden. Ich werde sie wohl wieder treffen und die Szene wird sich ein paar Mal wiederholen, während Schauspielerkinder aus dem Fenster meiner Schule geworfen werden.
Meine Spuckefäden tropfen langsam vor unsere Haustür, bis eine kleine Pfütze entsteht. Beim Verlassen der Wohnung wird sie getrocknet sein.
Ich will nicht verdampfen.
Unsere Briefkästen explodieren, einer nach dem anderen.
Das Echo schafft es bis in den 17. Stock.
Ich stehe auf weichem Teppichboden.
Etwas festzuhalten fällt mir schwer, etwas zu erinnern nicht.
Durch den Türschlitz steigt dichter Zigarettenrauch bis an die Zimmerdecke.
Ich liege im Bett und halluziniere, tropfe gleichmäßig in die Matratze.
Mit meinen lang gewachsenen Armen berühre ich die Raufasertapete und fühle eine Landschaft, die ich nie kennenlernen werde, das erahne ich.
Im Fiebertraum imaginiere ich zu der Musik von Mariah Carey, wie ich ihren Körper berühre, dabei halte ich Alf im Arm und zwirbel die langen rot-braunen Kunststoffhaare. Ich will mich in ihnen auflösen, verberge mein Gesicht und masturbiere. Ich spüre, wie die Platte vibriert. Das feine Echo gelangt bis in meinen Magen. Sanft legt sich der kalte Rauch in die Poren meines Körpers ab. Music Box läuft in Endlosschleife, bis ich irgendwann einschlafe und den immer selben Traum träume. Zehn Jahre wird er anhalten.
Meine Großeltern nennen meine Mutter nicht bei ihrem Namen.
Schauen wir uns den Ort genau an,
wie wir hier stehen und den Boden festdrücken, einander Sorgenfalten erkennen und Körper sind. Unsere Körper beginnen hier, sie sind Spuren einer Erscheinung, sie sind Körper in anderen Körpern, sie provozieren Übergänge in Räume, die wir noch nicht kennen.
An welchen Stellen berühren sich unsere Biografien?
Fabian Saul schreibt in „Die Trauer der Tangente“: „Ein Ort lag schon immer im anderen“ und ich will ergänzen, ein Ort lag schon immer im anderen und wir wussten ja von diesem.
Du bist eine moderne Ruine,
ein zarter Müllhaufen,
die entzündete Wahrsagung aus
zwölf Säulen verhärteter Geschichte
auf Berliner Boden.
Dana Lorenz, 2025